Was Twitch noch retten könnte

Gerade ist Gamescom in Köln und die Hallen sind voll von mehr oder weniger erfolgreichen Streamern, die noch versuchen, mit 4 Tagen Arbeit drei weitere Zuschauer zu erreichen.

Was diese Streamer aber nicht sehen: wie schlecht es der größten Streaming-Plattform geht und dass es recht bald vorbei sein könnte.

Aber was ist da genau los?

Immer wieder Kündigungen

Seit Jahren, genauer seit Ende 2022, gibt es in regelmäßigen Abständen immer wieder Kündigungen bei der größten Livestreaming-Plattform Twitch, die seit inzwischen über 10 Jahren zum Amazon-Konzern gehört.

Immer wieder liest man zwischen diesen Kündigungswellen, dass die Mitarbeiter unter enormem Erfolgsdruck stehen und Angst davor haben, dass die nächste Welle sie erwischen wird, da die Firma trotz ihres öffentlichen Erfolgs eigentlich nur Verluste einfährt.

Das aktuelle Geschäftsmodell

Als Twitch damals, vereinfacht gesagt, als Justin.tv angefangen hat, ging es ums Zocken. Die Spieler konnten ihr Spiel live übertragen. Man war recht schnell und einfach in der Lage noch Mikro und Webcam dazuzuschalten und schon konnten die Freunde zuschauen.

Manche der Streamer waren dabei sogar sehr erfolgreich, sei es durch besonders gutes Gameplay oder, und das ist oft der ausschlaggebendere Grund, durch gute Unterhaltung. Sei es, dass die Fluch-Attacken beim letzten Kill besonders witzig waren oder was auch immer die Zuschauer daran begeistert hat.

Hinzu kam, dass man diese Streams monetarisieren konnte.
Heutzutage sind diese Methoden:

  • monatliche Abonnements – Subscriptions, kurz „Subs“, hier bekommt der Streamer je nach Vertrag mit Twitch 50-70% des Sub-Preises von knapp €5 gutgeschrieben
  • Bits – vereinfacht: spendet jemand einen Bit über den Chat, bekommt der Streamer einen US-Cent gutgeschrieben; diese Bits kauft der Zuschauer vorher und bezahlt dort knapp 30% Provision an Twitch, also bekommt man für $130 Bits im Wert von knapp $100
  • Donations – diese gehen oft an Twitch vorbei, dadurch sind die Gebühren deutlich geringer, aber die Hürde für den Zuschauer ist deutlich höher

Kurz: Je besser das Entertainment, desto eher stieg die Zuschauerzahl und desto mehr hat man verdient.

Das Problem mit dem aktuellen Modell

In der Online-Welt wird gerade aus Richtung der USA immer gepredigt: Die Einstiegshürde muss so niedrig wie möglich sein. Ich behaupte, dass hier das Problem für Twitch herkommt und jeder einfach streamen kann, bringt Twitch in genau diese Zwickmühle.

Mit Beginn der Pandemie wurde Livestreaming für sehr viele Zuschauer der Zeitvertreib schlechthin und was so mancher dort vor der Kamera da macht, „das kann ich doch auch“. Ja, richtig, technisch gesehen hast du, lieber User, vollkommen Recht. Die Hürde wurde über die letzten Jahre immer weiter runtergestellt, selbst auf jeder Konsole kann man sehr einfach zu Twitch oder YouTube streamen.

Mit einem Wechsel in der Führungsetage bei Twitch kam noch ein weiteres Problem hinzu: Der Fokus lag plötzlich nicht mehr nur im Gaming. Es wurde plötzlich egal, was man streamt. Und sei es, dass man draußen herumläuft und dummes Zeug redet. Einige Jahre zuvor wurde man auf Twitch für solche Streams noch abgestraft.

Genauso entdeckten auch DJs die Plattform für sich und hatten ganz viele Zuschauer, die allerdings sehr passiv waren. Deutlich seltener gab es bei diesen Streams auch mal Einnahmen, die durch die Twitch-Kassen liefen.

Jeder Zuschauer kostet die Plattform Geld

Lasst uns eine kleine und deutlich vereinfachte Beispiel-Rechnung machen, die sogar etwas zu niedrig ansetzt, weil einige Kosten (z. B. Kosten eines Requests auf dem CDN) nicht mit reingerechnet werden.

Wir nehmen jetzt mal ganz optimistisch den niedrigsten Preis von Amazons CDN (CloudFront) als Berechnungsgrundlage. Der günstigste Gigabyte-Preis ist dort $0,02 (also 2 Cent). Diesen gibt es für Kunden von Amazon erst, nachdem man schon 5 Petabyte (also 5.120 Terabyte) an Traffic für einen höheren Preis verbraucht hat, aber gehen wir mal davon aus, dass Twitch hier gute Verträge abgeschlossen hat.

Jetzt nehmen wir mal einen der größten Streamer in Deutschland als Basis: MontanaBlack. Man muss ihn für diese Rechnung nicht mögen, es sind hier nur Zahlen. Als Basis nehmen wir den letzten Monat (Juli 2024):

(Die Leser am Handy sollten ihr Gerät ab jetzt am Besten quer halten)

⌀ ZuschauerZuschauerstundenGestreamte Stunden
34.5252.000.00058
(⌀ 4,4 h/d)

Quelle: Twitchtracker

Bei einer Bitrate von 6 MBit/s (als Twitch-Partner kann er bis 8 MBit/s streamen, aber das ist für uns jetzt egal), berechnen wir also erst einmal die Daten, die er an Twitch sendet:

\[ \dfrac{6\ MBit/s}{8} = 0,75\ MByte/s \cdot 3.600\ Sekunden = 2.700\ MByte/h\newline\newline \]\[ 2.700\ MByte/h \cdot 58\ Stunden = \dfrac{156.600\ MByte}{1.024\ MByte} = 152,929\ GByte \]

Okay, 152 Gigabyte an Twitch gesendet an insgesamt 13 Tagen. Das ist okay.

Wenn jetzt nur EIN einziger Zuschauer alle Streams vollständig gesehen hat, hat dieser Zuschauer also auch diese 152,929 GB übertragen, das macht dann also Kosten von:

\[ 152,929\ GB \cdot \$0,02 = $3,05858 \]

Also recht easy: ein Zuschauer produziert Kosten von knapp $3,05. Es geht jetzt hierbei nicht nur um Zuschauer, die den Stream vollständig gesehen haben, sondern um den Durchschnittswert, da manche mehr oder weniger lange schauen. Hinzu kommt auch noch, dass sich mancher Zuschauer die Aufzeichnung anschaut, die wir hier gar nicht mit reinrechnen.

Jetzt ist es also ziemlich leicht auszurechnen, was die Zuschauer im Juli nur an Traffic-Kosten verursacht haben:

\[ $3,05858 \cdot 34.525\ \varnothing Zuschauer = $105.597,4745 \]

Okay, da sind wir also bei Kosten von über $105.000.

Hinzu kommen 58 Transcoding-Stunden, um den Stream in fünf verschiedene Auflösungen zu transkodieren, damit auch Zuschauer mit schlechten Internetleitungen ohne Ruckeln den Stream schauen können. Auch diesen Wert lasse ich jetzt mal weg, da es sich erstens um eine Konstante pro Stunde handelt, die nicht mit der Anzahl der Zuschauer wächst. Zweitens gleichen wir damit die paar Zuschauer aus, die auf die kleinen Auflösungen herunterfallen (Gamer wollen immer alles in der perfekten Auflösung sehen, deshalb wählen viele die hohe Auflösung).

Mit Stand 30.7.2024 hatte MontanaBlack laut Twitchtracker 18.940 Subscriptions. Aber hier müssen wir jetzt ganz vorsichtig sein, denn ein genauer Blick zeigt folgende Verteilung:

Abo-TypAnzahl
Tier 16681
Tier 218
Tier 314
Prime9409

Da Marcel, wie MontanaBlack mit echtem Vornamen heißt, schon sehr lange bei Twitch Partner ist, nehmen wir jetzt zugunsten von Twitch an, dass er einen 70/30-Deal hat. Das heißt: Er bekommt 70%, Twitch behält 30% von den €4,99, die so eine Tier-1-Subscription kostet. Es gibt Vermutungen, dass er sogar noch einen besseren Deal hat, aber nichts Genaues weiß man nicht. Den 70/30-Deal bekommen aber viele Partner, die gewisse Zuschauer- und Abo-Voraussetzungen erfüllen.

Wir erweitern also die eben gezeigte Tabelle jetzt mal um die Geldbeträge. Diese weichen von der Realität immer ein wenig ab, da Subs in anderen Ländern teilweise weniger und selten sogar mehr kosten und die Währungsumrechnungen zwischen Dollar und Euro auch noch einmal etwas Varianz hineinbringen.

Abo-TypAnzahlPreisEinnahme StreamerEinname Twitch
Tier 16.681€4,99€23.336,733€10.001,457
Tier 218€7,99€100,674€43,146
Tier 314€19,99€195,902€83,958
Prime9.409€0,00€26.345,20€0
—————–——–——————-—————-
Gesamt:16.122€49.978,509€10.128,561

Laut Twitchtracker sind noch einmal knapp über 2.800 Subs nicht näher definiert, aber damit bekommst du die fehlenden €90.000 ohnehin nicht herausgerissen. Selbst nicht, wenn Twitch von Amazon für die Prime-Subs nicht näher definierte Zuschüsse bekommt.

Wir könnten jetzt auch noch anfangen, den ganzen Kram schönzurechnen, weil Twitch bessere Konditionen beim Traffic hat etc., aber das hilft alles nicht, denn von diesem Umsatz ist bislang nicht ein einziges Gehalt auch nur mit einem Euro finanziert.

Selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass Twitch sogar nur ein Zehntel der Traffic-Kosten hätte, wären die Personalkosten immer noch nicht gedeckt. Es ist und bleibt ein Verlustgeschäft.

Es gibt natürlich noch eine Einnahmequelle: Werbung. Die ist aber am Ende so niedrig, dass die auch kaum ins Gewicht fällt.

Kleine Streamer ein noch größeres Problem

Wir reden hier jetzt nur einem Streamer. Aber wenn man der Aussage von Twitch von vor ein paar Jahren glauben darf, erreichen nur 2% aller Streamer überhaupt den Punkt, dass sie ihren Stream monetarisieren können. Also mindestens 3 durchschnittliche Zuschauer bei mind. 7 Streams im Monat und mindestens 50 Followern.
Persönliche Anmerkung: Da sieht man mal, wie „toll“ manche Menschen entertainen können.

Heißt also, dass 98% der Streams 100% Kosten und 0% Einnahmen produzieren, da bei ausgeschalteter Monetarisierung auch keine Werbung geschaltet wird.

Twitch als technischer Dienstleister

Mein Vorschlag zur Rettung der Plattform: Twitch wird zum technischen Dienstleister.

Wie genau so etwas aussehen kann:

Jeder Streamer mietet sich auf der Plattform die Streaming-Dienstleistung mit Extras

  • der Streamer bezahlt eine Grundgebühr für die Dienstleistung
  • der Streamer bezahlt den Traffic (je nach Grundgebühr vielleicht sogar mit Freitraffic?)
  • der Streamer bezahlt das Transcoding (je nach Auflösung und FPS-Werten wird es günstiger/teurer)
  • der Streamer bekommt 100% der Einnahmen
  • der Streamer kann entscheiden, ob z. B. nur Subscriber den Stream sehen können (gibt es jetzt auch schon, macht aber niemand)

Das klingt jetzt erst einmal wild, aber für Twitch hat es auch Vor- und Nachteile:

  • Twitch bietet die Plattform mit Such-Funktionen und Discovery-Seiten für die Zuschauer
  • Twitch generiert sinnvoll Einnahmen und verringert das Betriebsrisiko
  • Twitch kann sich auf das Kerngeschäft konzentrieren
  • Twitch wird mehr in die Haftung genommen, was u. a. die Viewer- und Spam-Botangriffe angeht, denn das erzeugt auch Traffic und den will der Streamer natürlich dann nicht bezahlen

Ich behaupte, dieser Schritt würde auch die Qualität der Inhalte und der Services deutlich erhöhen. Als ich in San Francisco bei Twitch war und mich dort eben auch mit Mitarbeitern unterhalten habe, ist mir aufgefallen, dass sich dort gefühlt niemand Gedanken darum macht, dass es gar nicht so geil ist, mehr Streamer zu haben, sondern mehr zahlende Zuschauer.

Ein MontanaBlack mag auf den ersten Blick immer eingebildet erscheinen, wenn er seinen Chat so einstellt, dass nur Abonnenten überhaupt schreiben dürfen, aber ohne diese Maßnahme wären die Einnahmen für alle Beteiligten wohl noch schlechter.

Die höhere Einstiegshürde würde auch dafür sorgen, dass nicht jeder 13-Jährige das Gefühl hat, er könne nächste Woche der nächste Knossi oder Monte werden. Es würde das gesamte Streaming-Business in die Professionalität heben und diese Geiz-ist-geil-Mentalität in der Branche hoffentlich beenden.

Mal abgesehen davon ist der Stundenlohn, den viele Streamer erzielen, deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Dafür dann 6-8 Stunden vor der Kamera abrackern und sich den Mund fusselig quatschen, kann man machen, ist aber auf Dauer nicht produktiv.

„Du hast ja mal gar keine Ahnung, du Idiot!“, „Selten solch einen Schwachsinn gelesen!“

Diese Sätze musste ich mir schon oft anhören. Oft von Leuten, die genau in den oben genannten Rastern hängen bleiben und die im „das haben wir schon immer so gemacht“ Land leben.

Ja, richtig und genau diese Aussage hat schon so viele Plattformen getötet oder glaubt hier immer noch jemand, dass Twitter ohne Geld von außen überleben kann? Die berühmte Gratis-Menthalität ist der Killer für Plattformen.

Und ihr werdet es nicht für möglich halten, aber alles im Internet kostet Geld. Auch das, was vermeintlich kostenlos ist. Wenn diese Kosten nicht anderweitig ausgeglichen werden – und im Fall von Twitch ist das wirklich schwer – geht die entsprechende Plattform vor die Hunde.


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